Foto von Gabriele Platscher die mit abgestützten Ellenbogen auf eine Frage antwortet

Soziale Demokratie leben

Ein Interview mit Gabriele Platscher

24.11.2020Lesezeit 3 min

Gabriele Platscher ist nicht nur Vorsitzende des Betriebsrats Niedersachsen Ost der Deutschen Bank, Aufsichtsratsmitglied der Deutschen Bank und Mitglied des Gewerkschaftsrats von ver.di. Sie engagiert sich zudem ehrenamtlich im Vorstand der VBG. Wie die Selbstverwaltung sich in Pandemiezeiten organisiert, verrät sie im Interview.

Frau Platscher, Ihr Terminkalender ist sicherlich mehr als voll. Dennoch setzen Sie sich bereits seit 1999 in der Selbstverwaltung der VBG für die Belange von Versicherten und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein. Warum?
Obwohl die gesetzliche Unfallversicherung so wichtig ist und einen starken Einfluss auf die Tätigkeit und die Ausgestaltung der Arbeit von Millionen Beschäftigten hat, sind Unternehmerinnen und Unternehmer sowie Führungskräfte und Beschäftigte häufig unzureichend darüber informiert. Zudem gibt es thematische Schnittstellen. Die Themen, mit denen ich mich im Zusammenhang mit meiner betrieblichen und gewerkschaftlichen Tätigkeit bei ver.di beschäftige, kann ich auch in meine Tätigkeit für die Selbstverwaltung der VBG einfließen lassen. Ich bin davon überzeugt, dass es hier viel Spielraum zur Gestaltung gibt.

Viele Menschen in Deutschland wissen allerdings gar nicht, was Selbstverwaltung eigentlich ist. Wer schon mal davon gehört hat, weiß nicht, wie sie funktioniert. Können Sie das Konzept erläutern?
Das Prinzip der Selbstverwaltung ist eine Form gelebter sozialer Demokratie. Es gibt Betroffenen die Möglichkeit, sich an den Entscheidungen ihrer Sozialversicherungsträger zu beteiligen, und trägt so maßgeblich dazu bei, dass Institutionen wie die VBG sich als mehr verstehen als rein wirtschaftlich handelnde Unternehmungen. Die gesetzlichen Sozialversicherungen setzen auf Solidarität der Gesunden mit den Kranken, der Jungen mit den Alten, der Starken mit den Schwachen. Dabei gibt es in der VBG zwei wesentliche Organe: die 60-köpfige Vertreterversammlung und den 16-köpfigen Vorstand. Beide Gremien sind paritätisch mit Vertreterinnen und Vertretern von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern sowie Versicherten besetzt. Die Vertreterversammlung wird alle sechs Jahre in den Sozialversicherungswahlen gewählt und wählt dann wiederum den Vorstand.

Die Vertreterversammlung tagt zweimal jährlich, der Vorstand stimmt sich meistens im Abstand von zwei Monaten ab. Dazwischen findet viel Arbeit in thematisch gegliederten Ausschüssen statt. Wo engagieren Sie sich genau?
Neben meiner Vorstandstätigkeit bin ich aktuell ordentliches Mitglied im Rehabilitationsausschuss sowie alternierende Vorsitzende des Personalausschusses. Im Personalausschuss beraten wir über weitreichende Personalangelegenheiten der VBG. Wenn zum Beispiel die Leitung einer Bezirksverwaltung ausgeschrieben ist, stellen sich die Kandidatinnen und Kandidaten im Personalausschuss vor. Somit können sich die Kolleginnen und Kollegen ein Bild machen und Fragen stellen. Dann spricht der Personalausschuss eine Empfehlung an den Vorstand aus. Wir können darauf achten, welche Menschen in wichtigen Funktionen sitzen. Angefangen habe ich in der Vertreterversammlung und als Finanzfachfrau natürlich im Finanzausschuss. Besonders interessant war es in den Jahren 2009/2010, als die Berufsgenossenschaften fusionierten und zur damals schon breit aufgestellten VBG auch noch die Berufsgenossenschaften Glas/Keramik und die der Straßen-, U-Bahnen und Eisenbahnen hinzukamen.

Sie haben von 1974 bis 1977 eine Ausbildung zur Bankkauffrau bei der Deutschen Bank gemacht und dann ein Abendstudium zur Bankfachwirtin absolviert. 1977 sind Sie in die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft – ab 2001 ver.di – eingetreten. Was macht Sie als Gewerkschaftsvertreterin zur idealen Interessenvertreterin für die Versicherten der VBG?
Die Entscheidung, mich in der Arbeitnehmervertretung zu engagieren, war reiflich überlegt. Schon während der Ausbildung wurde ich gefragt, ob ich in der Jugendvertretung der Deutschen Bank aktiv sein wolle. Mein Vater, der in einem Industrieunternehmen beschäftigt war, hatte mich eher gewarnt, weil Jugendvertreter damals nach der Ausbildung nicht übernommen wurden. Bei der Deutschen Bank war das allerdings kein Thema. Nach der Jugendvertretung wurde ich als junge, weitgehend unbekannte Frau in den Betriebsrat gewählt. Parallel dazu bin ich in die Gewerkschaft eingetreten und darüber dann zur VBG gekommen. Ich bin davon überzeugt, dass meine Praxiserfahrung als Betriebsrätin hier hilfreich ist. Ich bin darauf konditioniert, die Probleme der Beschäftigten vor Ort zu sehen und zu hören. Ein weiterer Pluspunkt ist meine Vernetzung. Viele Themen der VBG sind auch in den anderen Gremien, in denen ich mich engagiere, wichtig, aktuell zum Beispiel das Thema mobiles Arbeiten. Da kann ich einen Wissenstransfer anstoßen.

Foto von Gabriele Platscher vor einer Treppe und einem großen Fenster

Die Interessen von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern und Versicherten sind nicht immer die gleichen. Gibt es viel Diskussionsbedarf in der Selbstverwaltung?

Grundsätzlich arbeiten wir sehr konstruktiv zusammen. Natürlich gibt es auch mal inhaltliche Reibungen, und wir haben keineswegs immer einstimmige Abstimmungen im Vorstand. Ich finde immer, dass gute Demokratinnen und Demokraten sich dadurch auszeichnen, Entscheidungen zu akzeptieren. Vor der Coronazeit sind wir abends auch mal gemeinsam essen gegangen.

Apropos Corona: Die Pandemie traf viele Bereiche des Lebens mehr oder weniger unerwartet. Wie hat die Selbstverwaltung auf den Lockdown reagiert?
Am Anfang des Lockdowns haben wir die Prozesse, so gut es ging, angepasst. Wir haben zunächst viel telefoniert und dann Videokonferenzen abgehalten und unsere Themen einfach bearbeitet, ohne uns persönlich zu treffen. Meistens hat das wirklich gut geklappt, manchmal war es nervig. Vor allem die Technik streikt gern mal, was bei allen Beteiligten zu Frust und Zeitverlust führt.

Sind Sie mit der Zusammenarbeit der letzten Monate zufrieden?
Im Rahmen der Umstände auf jeden Fall. Der Lockdown hat uns dazu gezwungen, mehr digitale Formate auszuprobieren. Für kürzere Sitzungen würde ich diese gern beibehalten, da alle dabei wirklich Zeit gewinnen. Für viele Themen würde ich Präsenzsitzungen allerdings vorziehen. Die Kommunikation ist schon eine andere. Man diskutiert mehr, und da ich ein sehr spontaner Mensch bin, schätze ich den direkten Austausch von Argumenten. In der Selbstverwaltung war es glücklicherweise so, dass wir uns für die Web-Konferenzen die Zeit genommen haben, die wir auch für das persönliche Treffen veranschlagt hätten. In anderen Gremien wurden manche sonst zweitägige Präsenzsitzungen als vierstündige Videocalls angesetzt. Diese Zeitverkürzungen habe ich immer bedauert, weil die Tagesordnungen ja die gleichen geblieben sind. Unter Zeitdruck wichtige Entscheidungen zu fällen halte ich für keine gute Idee. Und wenn sich neue Kandidatinnen und Kandidaten für wichtige Ämter vorstellen, schätze ich es ebenfalls sehr, sie persönlich zu erleben.

Die Pandemie ist leider noch lange nicht vorbei. Wie geht es für die Selbstverwaltung weiter?
Wichtige Beschlüsse der Vertreterversammlung wurden ja im Juli in einem schriftlichen Verfahren gefasst. Das hat zwar gut funktioniert, ist aber auf Dauer keine Lösung, da mir der konstruktive Austausch einfach fehlt. Wir haben im August eine Vorstandssitzung als Hybrid abgehalten. Einige Mitglieder haben sich in einem großen Raum mit sehr viel Abstand getroffen, andere haben sich virtuell dazugeschaltet. Das hat sehr gut geklappt, und wahrscheinlich wird es auch so weitergehen. Die VBG-Selbstverwaltung schreibt übrigens schon seit zwei Jahren einen eigenen Blog. Der „Puls“ greift aktuelle Themen rund um die Selbstverwaltung der VBG auf und verschafft den Versicherten, Unternehmerinnen und Unternehmern einen einzigartigen Blick auf das Wirken der Selbstverwaltungsorgane.

Nicht nur die Arbeit der Selbstverwaltung entwickelt sich weiter, auch die Arbeit generell wandelt sich radikal: Die künstliche Intelligenz hält überall Einzug, Beschäftigte sollen agil arbeiten. Warum ist die VBG-Initiative Mitdenken 4.0, an der auch ver.di sich beteiligt, so wichtig?
Die Arbeitswelt erfährt in diesen Jahren einen massiven Wandel, den wir auch mit unserem Präventionswissen begleiten wollen. Zentrales Anliegen ist, dass wir gemeinsam sicherstellen, Beschäftigte nicht zu überfordern, damit diese gute Arbeit leisten können. Das wiederum liegt im Interesse aller. Deshalb sind Vertreterinnen und Vertreter des privaten Bankgewerbes, der Arbeitgeberverbände und auch der Gewerkschaften an Bord. Themen wie agiles und mobiles Arbeiten sind mittlerweile ja ganz wesentlich für die Tarifverhandlungen. Was ich wirklich sehr schätze, ist die besondere Zusammensetzung und wirksame Zusammenarbeit dieser Arbeitsgruppe.

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